Altersdepression: Liebe hilft, aber heilt nicht

Depression zählt neben Demenz, Schlaf- und Angststörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter. Laut einer Studie des Robert Koch Instituts erkranken rund 6,1 Prozent der 70- bis 79-Jährigen im Laufe eines Jahres an einer Depression. Frauen sind häufiger betroffen.  
Eine Altersdepression unterscheidet sich prinzipiell nicht von einer Depressionserkrankung in jungen Jahren: In beiden Fällen berichten Betroffene von anhaltender Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit und einem Gefühl innerer Leere, sie sind antriebs- und lustlos. Doch bei Seniorinnen und Senioren bleibt eine Depression oft unerkannt. Warum das so ist, welche Anzeichen auf eine Altersdepression hindeuten und weswegen eine Depressionserkrankung manchmal mit einer Alzheimer-Demenz verwechselt wird, erfahren wir von Prof. Dr. Ulrich Hegerl, dem Vorstandsvorsitzenden der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. 

Herr Hegerl, sind Seniorinnen und Senioren häufiger von Depressionen betroffen als jüngere Menschen?

Nein, im Gegenteil: Seniorinnen und Senioren erkranken eher etwas seltener an einer Depression. Zwar häufen sich im Alter Schicksalsschläge und Bitternisse – sei es wegen typischer Alterserkrankungen und Beschwerden oder weil der Partner verstirbt –, aber die daraus resultierende Trauer oder Verzweiflung ist nicht mit einer Depressionserkrankung gleichzusetzen. Schwere Lebensumstände reichen allein nicht aus, um eine Depression auszulösen. Entscheidend ist auch eine entsprechende Veranlagung. Meist haben betroffene Senioren bereits in jüngeren Jahren depressive Episoden erlebt und haben Familienmitglieder, die ebenfalls von Depressionen betroffen waren oder sind.  

Prof. Dr. Ulrich Hegerl

Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe

Allerdings bleibt in vielen Fällen eine Altersdepression unerkannt. Warum?

Depressive Seniorinnen und Senioren nehmen bestehende körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen oder Verdauungsstörungen stärker wahr. Typischerweise klagen sie daher vornehmlich über physische und weniger über psychische Symptome. Das macht es schwer, die zugrunde liegende Depression zu erkennen. Zudem glauben auch viele unerfahrenen Ärzte fälschlicherweise, dass eine Depression eine natürliche Folge von Schicksalsschlägen und schweren Lebenssituationen darstellt. Aus diesem Grund tun sie die Anzeichen einer Depression bei älteren Patienten häufig als normale Reaktion auf die Probleme und Beschwernisse des Alters ab und sehen keinen Behandlungsbedarf.

Welche Anzeichen deuten darauf hin, dass ein älterer Mensch womöglich an einer Depression leidet?

Zu den typischen Anzeichen zählt beispielsweise, dass sich Betroffene ständig müde fühlen, ohne allerdings schläfrig zu sein. Es ist eher ein tiefes Erschöpfungsgefühl bei innerer Daueranspannung. Es fühlt sich an, wie permanent vor einer wichtigen Prüfung zu sein. Trotz der gefühlten Müdigkeit haben die Betroffenen große Schwierigkeiten in den Schlaf zu finden. Appetitlosigkeit oder eine verstärkte Neigung zu Schuldgefühlen sind weitere Krankheitszeichen.

Zu beachten ist, dass die Symptome der Depression nach dem Schlafen meist stärker ausgeprägt sind als vor dem Schlafengehen. Morgens fühlen sich depressive Menschen in der Regel am schlimmsten (Morgentief), im Tagesverlauf bessert sich das ein wenig und am Abend ist die Stimmung etwas aufgehellt. Schlafentzug hat eine positive Wirkung und wird auch im Rahmen von stationären Behandlungen eingesetzt (Wachtherapie).  

Warum wird eine Depression bei älteren Menschen manchmal mit einer Demenz verwechselt?

Depressionserkrankte Menschen fühlen sich isoliert und wie abgeschirmt von ihrer Umgebung. Manche vergleichen dieses Gefühl des Abgeschirmtseins mit einer Milchglasscheibe, die zwischen ihnen und ihrem Umfeld steht. In dieser Situation scheint es schwer, sich alltägliche Dinge zu merken, da diese einen nicht berühren. Bei schweren Depressionen sind Betroffene zudem kaum noch in der Lage, sich zu unterhalten und auszudrücken. So kommt eventuell die Sorge auf, dass man an einer Alzheimer-Demenz erkrankt sein könnte. 

Ein Arzt kann jedoch meist schnell herausfinden, welche der beiden Erkrankungen vorliegt, denn die Krankheitsbilder sind doch sehr unterschiedlich. Im Gegensatz zu Depressionserkrankten haben Menschen mit Demenz keinen oder einen geringeren Leidensdruck und neigen eher dazu, ihre Defizite zu bagatellisieren. 

Welcher Arzt ist zuständig für die Behandlung einer Depression?

Depression ist eine schwere psychische Erkrankung, für die Fachärzte, das heißt Psychiater oder Psychologen mit einer Spezialausbildung (Psychologische Psychotherapeuten) zuständig sind. Psychiater können mit Medikamenten und/oder Psychotherapie behandeln, die Psychologischen Psychotherapeuten bieten nur Psychotherapie an, können aber wie die Ärzte über die Kasse abrechnen. Ein Großteil der Betroffenen wird auch vom Hausarzt erfolgreich behandelt, in der Regel mit Antidepressiva. 

Was sollten pflegende Angehörige beachten, die sich um einen depressionserkrankten Menschen kümmern?

Sie sollten sich dessen bewusst sein, dass es sich bei der Depression um eine anlagebedingte Erkrankung handelt, die leider nicht allein dadurch geheilt werden kann, dass man sich liebevoll um die betroffene Person kümmert. Etwas überspitzt formuliert: Liebe kann keine Depression heilen – so wie sie auch keine Blinddarmentzündung heilen kann. Wenn Sie sich über die Erkrankung informieren, dann werden Sie das veränderte Verhalten besser einordnen können und nicht als ein „Sich-gehen-Lassen“ oder als Lieblosigkeit missverstehen. Wichtig ist, sich vor Augen zu halten, dass die Schuld nicht bei den Erkrankten selbst liegt, sondern bei der Erkrankung. 

Depressionserkrankte Menschen brauchen professionelle Hilfe. Ihre Angehörigen sollten sie ermutigen, diese in Anspruch zu nehmen und eine Behandlung konsequent durchzuziehen. Das ist natürlich nicht einfach, wenn sich Betroffene erschöpft fühlen, keine Hoffnung auf Besserung haben und nicht glauben, dass ihnen jemand helfen kann. Für Angehörige empfiehlt es sich, hier aktiv zu werden: einen Termin beim Arzt für die betroffene Person vereinbaren und sie zum Termin begleiten.    

Besteht bei der älteren Generation überhaupt die Bereitschaft, sich in eine Psychotherapie zur zu begeben?

Ja, durchaus. Eine von uns durchgeführte Studie hat ergeben, dass ein Großteil der älteren Menschen mit Depression sehr wohl bereit wäre, sich in eine psychotherapeutische Behandlung zu begeben. Nur wird depressionserkrankten Seniorinnen und Senioren oft keine Psychotherapie angeboten. Auch die Pharmakotherapie wird oft nicht konsequent und lege artis durchgeführt. Das ist nach wie vor ein großes Problem. Diese Behandlungsdefizite sind vermutlich auch einer der Gründe, weswegen die Suizidrate unter älteren Menschen – vor allem unter älteren Männern – deutlich höher liegt. 

Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen leiden häufiger an Depressionen als Gleichaltrige, die zu Hause wohnen. Woran liegt das?

Eine Depressionserkrankung kann auch verschiedene körperliche Krankheiten nach sich ziehen. Daher reduziert die Diagnose Depression die Lebenserwartung um ganze zehn Jahre. Die physischen Folgeerkrankungen in Kombination mit der lähmenden Wirkung der Depression können dazu führen, dass ein betroffener älterer Mensch nicht mehr selbstständig für sich sorgen kann und stationär versorgt werden muss. So erklärt sich eine überdurchschnittlich hohe Depressionsrate unter Heimbewohnerinnen und -bewohnern. 

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Der Tipp des Experten

Depressionserkrankte Menschen neigen dazu, früher schlafen zu gehen, am Morgen länger liegen zu bleiben und sich auch tagsüber noch einmal hinzulegen. Ein solches Verhalten verstärkt allerdings die Depression. Daher ist es wichtig, abendliche Aktivitäten zu finden – sei es ein spannendes Buch lesen oder mit jemandem telefonieren –, um der Versuchung zu widerstehen, sich früh ins Bett zurückzuziehen. Morgens sollte man zu einer angemessenen Zeit aufstehen und am Tag sollte man dem Bett ganz fernbleiben. Es ist längst erwiesen, dass weniger Schlaf bei vielen Depressionserkrankten eine positive Wirkung hat. Meine Empfehlung: Erstellen Sie eine Tabelle mit allen Tagen eines Monats und tragen Sie für jeden Tag die Anzahl der Schlafstunden in den letzten 24 Stunden sowie die Einschätzung Ihrer Stimmung auf einer Skala von eins bis zehn ein. Wenn Sie das ein halbes Jahr lang machen, können Sie verstehen, wie bei Ihnen der Zusammenhang zwischen der Bettzeit und Ihrer Depression ist.

Weiterführende Informationen: Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe bietet eine kostenfreie Online-Fortbildung an, die mit der Unterstützung des Bundesgesundheitsministeriums entwickelt wurde und ab Oktober 2021 verfügbar ist. Das Angebot richtet sich an pflegende Angehörige und Pflegekräfte und vermittelt Basiswissen zur Erkrankung sowie Tipps für den Umgang mit Betroffenen. Weitere Informationen finden Sie hier
Lesen Sie auch unsere Artikel „Depression im Alter“ und „Demenz oder Depression?“.

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